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Atemberaubende Landschaft, beispielloses Teamwork und ein unvergessliches Abenteuer erlebten wir auf der Wander-Pilgertour 2019 von Einsiedeln nach Interlaken, einer traumhaften Strecke, die mit vielen Höhenmetern herausfordernd und lohnend zugleich ist.
Neun Wanderlustige und ein Hund brachen am 7. Juni 2019 vom Bahnhof in Einsiedeln aus auf – eine buntgemischte Truppe, mit bekannten und unbekannten Gesichtern. Einige Teilnehmer hatten 2018 den Schwabenweg von Konstanz nach Einsiedeln begonnen und freuten sich riesig über die Fortsetzung, andere kamen ganz neu dazu und waren neugierig auf diese unbekannte Erfahrung.
Tag 1 – Einsiedeln nach Haggenegg
(ca. 20 km / 30.000 Schritte)
Entspannt und gut gelaunt starteten wir unsere erste Etappe mit strahlendem Sonnenschein, sprühender Motivation und der Bereitschaft, sich ins einfache Pilgerleben fallen zu lassen.
Unsere Wandergruppe bestand aus sechs gut sehenden und drei visuell beeinträchtigten Personen, von denen eine von ihrem Blindenhund begleitet wurde. Wir nutzten die ersten geraden Meter, um uns miteinander vertraut zu machen und in offenem Dialog herauszufinden, wer in welcher Form sehende Hilfe benötigte. Schnell spielten wir uns ein und erlebten unbeschwert das Ankommen auf dem Jakobsweg, freuten uns über unsere ersten oder neuen Stempel im Pilgerpass, genossen unser wohlverdientes, gaumenschmeichelndes Picknick im Grünen und wanderten uns richtig ein.
Im Schatten der Mythen schafften wir gemeinsam unseren ersten längeren Aufstieg, zusammen und doch jeder in seinem Tempo. Wurzeln, Felsen und sogar ein kleines steiniges Flussbett überwanden wir trocken, unversehrt in schöner Teamarbeit und wurden schließlich mit weiter Sicht, Idylle und selbstgemachtem Eis belohnt.
Das i-Tüpfelchen war unsere erste Unterkunft auf 1400 m – der Berggasthof Haggenegg – mit einem Panoramablick auf enorme Schweizer Berge, tiefblaue Seen und spürbare Ferne. Da war der ein oder andere schon vom Glück berauscht und fühlte sich demütig, frei und erhaben.
Tag 2 – Haggenegg nach Buochs
(ca. 33 km / 50.000 Schritte)
Gestärkt vom köstlichen Frühstück schulterten wir unsere Rucksäcke und stellten uns der besonderen Herausforderung von über 30 zu gehenden Kilometern. Zunächst erwartete uns ein kuhglockenbegleiteter Waldabstieg, der unsere Waden recht schnell zum Brennen brachte.
Beim Einkaufszentrum in Schwyz sammelten wir uns und erstanden neuen Proviant, konsultierten die hervorragend geführte Apotheke und statteten Victorinox einen Besuch ab – anschließend hätten wir gut und gerne eine Showeinlage als Messerwerfer performen können.
Ein schönes Highlight war die kurze Schifffahrt über den malerischen Vierwaldstätter See, über dem so mancher Wilhelm-Tell-Kenner einen doppelten Regenbogen suchte.
Aufgrund von wetterbedingten Kreislaufproblemen entschloss sich eine Teilnehmerin, die Tagesetappe etwas abzukürzen, eine weitere blasengeplagte Pilgerin unserer Gruppe schloss sich direkt an. Dass beim Wandern verschiedene körperliche Beschwerden auftreten können, ist völlig normal. Manche kann man mit purer Willenskraft bewältigen, manche erfordern vernünftiges Handeln. Es ist von essentieller Wichtigkeit, dabei auf das eigene Gefühl zu hören.
Wir gingen von Bord und machten weitere Höhenmeter auf blühenden Wiesen, lauschten dem Naturkonzert aus Vogelgezwitscher, Muhen und Zirpen und sogen den Duft grünen Grases, nahen Wassers und der sonnengewärmten Natur auf. Herrlich war unsere straff erlaufene Mittagspause mit Seeblick, klarster Sommerluft und dem ersten Anflug von Stolz für die zurückgelegte Strecke.
Die nächsten Stunden verbrachten wir größtenteils aufwärts gehend über stufige, steinige und wurzlige Waldwege, linkerhand aufragende Felswände, rechterhand tiefer Abgrund. Meter für Meter investierten wir Energie und Puste, um schließlich am höchsten Punkt mit einem der schönsten Ausblicke der gesamten Wandertour belohnt zu werden.
Schluss für heute? Weit gefehlt, denn einer der anspruchsvollsten Abstiege stand uns bevor: was wir im Wald hinaufgeklettert waren, ging es jetzt ein ganzes Stück wieder hinunter über unregelmäßige, unterschiedlich hohe Naturstufen, die mit Wurzelwerk und Steinstücken nur so gespickt waren. Der Zickzack-Kurs dieses Weges war besonders durch die sich ständig verändernden Lichtverhältnisse für unsere sehbeeinträchtigten Teilnehmer eine Herausforderung, die sie jedoch mit Bravur meisterten. Wir alle hatten beim herbeigesehnten Ankommen am unteren Ende vor Anstrengung zitternde Knie und pulsierende Oberschenkel – und waren mächtig stolz auf uns. Dieses Hochgefühl in Kombination mit der puren Willenskraft brachte uns schließlich entlang einer wunderbaren Seepromenade ans Tagesziel ins Hotel Sternen, wo uns ein köstliches Abendessen, unsere vorausgewanderten Pilgerinnen und die sehnsüchtig herbeigewünschte Sitzgelegenheit erwarteten.
Tag 3 – Buochs nach Flüeli
(ca. 26 km / 39.000 Schritte)
Zur Halbzeit waren wir alle voll und ganz im Wanderleben angekommen: wir feierten die saubere Luft, die vielfältigen Gerüche von frisch gemähtem Gras, duftendem Bärlauch und Harz und die Distanz zum Alltag. Wenn man von so viel natürlicher Schönheit umgeben ist, fällt es leicht, den Geist von Trubel und Sorgen zu lösen und im Hier und Jetzt zu sein. In Kontakt mit sich selbst. Man genießt die kleinen Dinge, die sonst so selbstverständlich erscheinen und in Wahrheit unendlich kostbar sind. Man lauscht dem typischen Schweizer Kuhglockenkonzert, atmet Waldluft, lächelt über erfrischend belebenden Nieselregen und fühlt die Epik der bergigen Landschaft.
Wir erlebten außerdem ein wirklich tolles Gruppengefühl. Harmonisch, aufgeschlossen und herzlich ging es bei uns zu und jeder brachte mit seiner Persönlichkeit, seinen Erfahrungen und Eigenheiten spannende Facetten in ein ganz besonderes Team. Besonders schön zu erleben war das Zusammenspiel sehender und nicht/wenig sehender Wanderinnen.
Es wurden je nach Weg verschiedene Techniken der Begleitung angewendet. Gingen wir nebeneinander, wurde sich am Arm eingehakt oder an der Hand geführt, je nach Vorliebe. Man hielt sich außerdem ab und an am Rucksack oder beide ergriffen den zusammengeklappten Langstock sozusagen als Bindeglied zwischen einander. Wenn die Pfade schmal wurden, ging man hintereinander. Die geführte Person orientierte sich dabei beispielsweise an leuchtenden Rucksackregenhüllen oder hielt sich an einem langen Bändel des Gepäcks fest. Der Führende sagte je nach Bedarf Stufen, Unebenheiten und andere Hindernisse an.
Die einen freuten sich dabei über das Vertrauen, die Sicherheit und die Verlässlichkeit der helfenden Hände, sodass es auch mit eingeschränktem Sehvermögen möglich war, dieses Abenteuer zu erleben. Die anderen berichteten, dass sie nicht nur gerne halfen, sondern es eine tolle Erfahrung war, einmal die eigene Wahrnehmung zu erweitern. Indem man einer anderen Person seine Augen leiht, verstärkt sich das eigene Empfinden und man wird zugleich sensibilisiert für die faszinierende Welt der übrigen Sinne, die man im Alltag eher beiläufig nutzt.
Das und viele lebhafte Themen waren Gesprächsstoff für das gemütliche Beisammensitzen nach dem Abendessen im Hotel Klausenhof in Flüeli-Ranft.
Tag 4 – Flüeli nach Brienzwiler
(ca. 27 km / 43000 Schritte)
Unsere Etappe von Flüeli nach Brienzwiler war die reinste Wundertüte: von strahlendem Sonnenschein, dem Weidenbänkli am See über drohende Gewitterfronten mit Dauerregen bis hin zu nebliger Mystik im Wald war alles dabei!
Den Morgen über wanderten wir mit munteren Sonnenstrahlen am weidengesäumten Sarner See entlang. Pünktlich zum Wechsel ans Lungernseeufer tauschten wir Sonnenschutz gegen Regenponcho und setzten unseren Weg in Strömen fort. Auch das gehört zum Pilgern. Ebenso, wie die Freundlichkeit der Landsleute, denn tropfnass und hungrig, wie wir nach einigen Stunden waren, ließ man uns in die eigentlich geschlossene Seilbahnstation, um uns zu stärken.
Bereit für den straffen Aufstieg verließen wir unser ungewöhnliches Pausenplätzchen, als uns auf den ersten Metern ein gewaltiger Blitz mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag begrüßte. Daraufhin entschieden wir aus Sicherheitsgründen, den bewaldeten Anstieg per Zug zurückzulegen, da keiner bei Gewitter am Berg sein wollte. Die einstündige Wartezeit vertrieben wir uns im urigen Café neben dem Bahnhof mit Tee und Cappuccino, bevor in einen mit Asiaten überfüllten Wagon stiegen, die fasziniert ihre Handys an die Scheibe drückten. Nur der Wermutstropfen, Eiger, Mönch und Jungfrau wetterbedingt nicht sehen und die gesamte Strecke nicht zu Fuß gehen zu können, blieb.
Eine Station später stiegen zwei unserer Wandergruppe in den Bus zum Zielort, der Rest setzte den Weg inspiriert und bestärkt durch ein kurzes sonniges Aufreißen des Himmels fort und machte sich an einen außergewöhnlichen Abstieg. Dunkler Wald, Wurzelwerk, bemooste Steine und regnerische Stille hätten für ein mysteriöses Feeling bereits ausgereicht; dichter Nebel, der keine zehn Meter weit blicken ließ, hüllte unser Wegstück zudem in zauberhaft mystische Stimmung. Kein Wunder, dass da die ein oder andere Gruselgeschichte geboren oder geradezu auf Kobolde, Elfen und Waldgeister gewartet wurde. Konfrontiert wurden wir jedoch ausschließlich von nassen Steinen, Wurzelschlingen und Steile – eine Herausforderung, die wir gemeinsam meisterten.
Wohlbehalten, stolz und bereit für den Feierabend verließen wir den Wald und begaben uns auf die Zielgerade, wo wir plötzlich die unerwartete „Schwäbische Umleitung“ vorfanden, die uns direkt in einen privaten Garten lotste. Unsere vorausgefahrenen Pilgerinnen waren hier bei in der Schweiz lebenden Freunden eingekehrt, die uns geradezu fürstlich und unsagbar herzlich mit einer Tafel voller Snacks und zwei liebenswerten Altdeutschen Schäferhunden empfingen. Wen stört da das Prasseln des Regens auf der Markise?
Im Anschluss kehrten wir in die Pilgerherberge Brienzwiler ein, wo uns ein charmantes, österreichisches Herbergselterntrio ein grandioses selbstgekochtes Abendessen mit Suppe, Salat, verschiedenen Knödeln, Nachtisch und Selbstgebranntem servierte, das uns alle schlichtweg begeisterte! Genauso die sympathische Gesellschaft, die authentische Übernachtungsmöglichkeit und das lustige Zusammensitzen. Ein perfekter Abschluss für einen wahrlich wundertütigen Tag!
Tag 5 – Brienzwiler nach Interlaken
(ca. 26 km / 42.000 Schritte)
Ein letztes Mal Rucksack packen, Wanderschuhe schnüren und ab auf den Jakobsweg hieß es für uns, der neben den obligatorischen Muscheln und einigen Höhenmetern von Dorf zu Dort auch einen bachüberquerenden schmalen Holzsteg und eine schwankende Hängebrücke für uns bereithielt und so Mut, Vertrauen und Selbstkenntnis forderte.
Und dann war da noch die Lawine. Ja, richtig gelesen! Am 11. Juni überquerten wir die Überreste einer Lawine aus dem vergangenen Winter, die Geröll und noch einen ganzen Haufen Schnee führte. Jetzt hatten wir wirklich alles erlebt!
Zu Beginn waren wir nicht sicher gewesen, ob wir auf der Strecke nach Interlaken nicht zeitlich bedingt die letzte Station mit dem Zug zurücklegen müssten, da unsere Heimreise fest auf 16:30 Uhr terminiert war. Aber je mehr die Zeitangabe auf den Wanderschildern schrumpfte, umso mehr wuchs unser Wille, das Ziel zu Fuß zu erreichen! Wir alle wollten es und wenn sich ein tolles Team etwas in den Kopf setzt, schafft es das auch! Und siehe da, wir erreichten Interlaken eine Stunde vor der Abfahrt und konnten sogar ein paar Snacks für die längere Heimfahrt besorgen und uns einen abschließenden Kaffee gönnen!
Wow, was für eine spannende, vielseitige, abenteuerliche Reise mit so vielen wertvollen Eindrücken, dem Zauber der Schweiz, funktionierender Inklusion und persönlichen Highlights! Wir haben gelacht, gelernt und sind über uns hinausgewachsen! Wer sich dem Jakobsweg stellt, wird dafür mit Erkenntnissen, Schönheit, geschärftem Bewusstsein und weitem Geist belohnt.
Nächstes Jahr geht es ab Interlaken weiter – sei auch du dabei, werde Teil eines wundervollen Weges und gehe deinen Jakobsweg mit uns!